Marcion | 5 Minuten in der Kirchengeschichte

„Weißt du, wer ich bin?“ Diese Frage wurde Polykarp, dem großen frühkirchlichen Bischof, gestellt. Polykarp war treu bis zum Schluss und einer der frühen Märtyrer für den Glauben. Und er hatte eine interessante Begegnung mit einer anderen sehr bekannten Figur der frühen Kirche, die nicht für ihre guten Taten, sondern für ihre schlechten Taten bekannt ist.

Diese Figur war offenbar auch sehr beeindruckt von sich selbst. Bei einer Gelegenheit traf er Polykarp. Er ging auf Polykarp zu, schaute ihm direkt in die Augen und sagte: „Weißt du, wer ich bin?“ Polykarp wollte nichts von diesem Getue wissen. Er schaute ihm direkt in die Augen und erwiderte schnell: „Ja, ich kenne dich sehr gut, du erstgeborener Sohn des Teufels.“ Diese Gestalt war Marcion. Er war ein bekannter Häresiarch, also der Begründer einer Häresie.

Marcions Geburtsjahr ist unbekannt; die Schätzungen reichen von 85 bis 110 n. Chr.. Wir wissen, dass er um 160 gestorben ist. Er war der Sohn eines Bischofs in der Türkei. Marcion war anscheinend in der Schifffahrt tätig, und es ging ihm sehr gut. Um 140 machte er sich auf den Weg nach Rom. Er wollte sich Einfluss in der Kirche erkaufen und übergab der Kirche in Rom eine beträchtliche Summe – eine Schätzung spricht von zwanzigtausend Münzen. Die Kirchenvertreter erkannten jedoch schon früh, dass er kein guter Kerl war und dass dies keine gute Richtung für die Kirche war, und so wurde er schnell exkommuniziert und mit all den zwanzigtausend Münzen weggeschickt.

Was war an der Lehre Marcions so problematisch? Marcion war von Platons Idee überzeugt, dass Materie schlecht ist, und deshalb war der Gott des Alten Testaments, der Gott, der die Welt erschaffen hat, kein Gott, den er ertragen konnte. In Marcions Denken musste es eine Distanz zwischen Gott und der Materie geben, so dass der Schöpfergott des Alten Testaments kein wahrer Gott oder ein geringerer Gott war. Infolgedessen schrieb Marcion im Grunde das gesamte Alte Testament ab. Er schrieb auch die Bücher des Neuen Testaments ab, die stark vom Alten Testament abhängig sind. Von den vier Evangelien mochte er eigentlich nur Lukas. Und von den Briefen mochte er weder Petrus noch Hebräer. Marcions Kanon – sein Verständnis davon, was Gottes Offenbarung für uns ist – war ein sehr kurzer Kanon. Er bestand aus Lukas und zehn Paulusbriefen, und selbst dann ging er auf einige der Paulusbriefe zurück und strich einige seiner Lehren.

Marcions Kanon hatte sogar einen positiven Nebeneffekt: Seine ketzerische Lehre veranlasste die Kirche, über den Kanon nachzudenken. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts formulierte die Kirche den Kanon des Alten Testaments, vor allem als Reaktion auf Marcion und seine Irrlehre. Die Kirche reagierte auch auf Marcions Auffassung von Christus. Offensichtlich hatte Marcion kein gutes Bild von der Inkarnation – weil er die materielle Welt verunglimpfte, leugnete er die wahre Menschlichkeit Christi. Kirchenväter wie Irenäus und Tertullian verfolgten Marcion auch in dieser Hinsicht.

So: „Weißt du, wer ich bin?“ Ja, Polykarp wusste, wer er war, und Polykarp wusste, dass er schlecht für die Kirche war.

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